Zwischen Authentizität und Professionalität im Job: Ein Spannungsfeld oder Frage der Perspektive?
“Sei Du Selbst! - Come as you are!”
Die Wechselwirkung zwischen Authentizität und Professionalität am Arbeitsplatz bildet seit jeher einen Kernpunkt in der Diskussion über beruflichen Erfolg und persönliche Entfaltung.
Jedes Unternehmen pflegt eine eigene und einzigartige Unternehmenskultur, die bestimmte Verhaltensweisen fordert und fördert. Unternehmen sind dahingehend wie kleine Ökosysteme., in denen die individuelle Persönlichkeit und der Wunsch nach persönlicher Entfaltung integraler Bestandteil sein müssen.
Die Forderung nach Authentizität, das Ermächtigen des wahren Selbst, wurde von Pionieren wie Carl Rogers und Viktor Frankl in die psychologische Landschaft eingeführt. Ihre bahnbrechenden Erkenntnisse legten den Grundstein für eine Diskussion, die bis heute das Arbeitsleben transformiert. Von der Psychotherapie inspirierte Konzepte wie die Authentizität am Arbeitsplatz versprechen nicht nur gesteigerte individuelle Zufriedenheit, sondern auch eine positive Dynamik in Teams und Organisationen.
Gleichzeitig wirft der gesellschaftliche Fokus auf Individualismus und Selbstentfaltung einen möglichen Konflikt zum gemeinsamen Verständnis von Umgangsformen und Verhaltensweisen auf.
Wie navigieren Menschen die Spannung zwischen gesellschaftlichen Erwartungen und dem Drang, ihre einzigartige Identität auszudrücken? Insbesondere im Arbeitskontext, als Teil einer größeren Organisation, in der die Notwendigkeit deutlich ist, ein sicheres und gestaltbares Umfeld für viele Menschen zu schaffen? Schließen sich Individualismus und eine kollektive Vorstellung aus? Wie passt die eigene authentische Art in einen professionellen Gruppenkontext?
In diesem Artikel wirst du unterschiedliche, vor allem auch wissenschaftliche Perspektiven kennenlernen, um eine eigene Antwort auf diese Frage zu erhalten.
Der Ruf nach Authentizität
Authentizität als Ermächtigung:
Carl Rogers, ein Pionier der humanistischen Psychologie, legte den Grundstein für die Bedeutung von Authentizität in zwischenmenschlichen Beziehungen. Seine Forschung, insbesondere die Personzentrierte Therapie, betonte die Kraft, die durch das Akzeptieren des wahren Selbst entsteht. Zahlreiche Studien, darunter eine Metaanalyse von Grant, Green, und Rynsaardt (2007), zeigen, dass Authentizität am Arbeitsplatz mit höherem Selbstvertrauen, besserer psychischer Gesundheit und einer positiven Arbeitsatmosphäre korreliert. Die Betonung der individuellen Stärken und die Förderung authentischen Ausdrucks können zu einer erhöhten Arbeitszufriedenheit führen.
Das Narrativ von Brené Brown, eine Forscherin im Bereich der Verletzlichkeit und Scham, untermauert diese Ergebnisse. In ihrer umfassenden Studie über Verwundbarkeit am Arbeitsplatz fand sie heraus, dass Führungskräfte, die ihre Authentizität zeigten, nicht nur bessere zwischenmenschliche Beziehungen aufbauen konnten, sondern auch eine erhöhte Mitarbeiterloyalität und Kreativität in ihren Teams verzeichneten.
Das Dilemma des Individualismus:
Der gesellschaftliche Wandel hin zum Individualismus, geprägt durch kulturelle Verschiebungen und philosophische Strömungen, hat die Erwartungen im beruflichen Kontext grundlegend beeinflusst. Viktor Frankl, ein weiterer einflussreicher Psychologe, betonte in seiner Logotherapie die zentrale Bedeutung individueller Identität und Sinnfindung. Dieser Fokus auf das Individuum hat jedoch auch das Dilemma aufgeworfen, wie sich die einzigartige Identität eines Mitarbeiters mit den gesellschaftlichen und beruflichen Normen in Einklang bringen lässt.
Hierbei zeigt eine Studie von Hofstede (1984), welche die kulturellen Dimensionen in Organisationen untersuchte, dass Kulturen, die Individualismus betonen, tendenziell höhere Werte in kreativem Denken und persönlicher Entfaltung am Arbeitsplatz aufweisen. Jedoch wurde in weiteren Untersuchungen, wie der von Taras, Steel, und Kirkman (2010), darauf hingewiesen, dass in kollektivistischen Kulturen die Betonung von Gruppenharmonie und Zusammenarbeit oft als gleichwertig positiv bewertet wird. Diese Erkenntnisse unterstreichen die Spannung zwischen der Förderung der individuellen Identität und dem Bedürfnis nach Anpassung an gemeinsame Werte und Normen im beruflichen Umfeld.
Das Paradigma der Professionalität
Die Notwendigkeit von Professionalität:
Die Wahrung von Professionalität am Arbeitsplatz gilt als grundlegend für die Aufrechterhaltung von Harmonie, Produktivität und Glaubwürdigkeit. Forschungsergebnisse von Anderson und Shannon (1988) untermauern, dass eine klare Definition professioneller Standards und deren Einhaltung entscheidend für eine effektive Zusammenarbeit und erfolgreiche Kundenbeziehungen sind. Die Studie betont, dass eine klare berufliche Identität das Vertrauen der Kunden stärkt und somit einen entscheidenden Einfluss auf den Erfolg von Fachleuten in verschiedenen Berufsfeldern hat.
Anpassung an die Unternehmenskultur:
Die Rolle der Unternehmenskultur bei der Gestaltung von Erwartungen an die Professionalität kann nicht übersehen werden. In einer umfassenden Studie von Denison (1990) wurde deutlich, dass die Ausrichtung an die Werte und Normen einer Organisation nicht nur die Arbeitsleistung, sondern auch die organisatorische Effektivität beeinflusst. Es wurde betont, dass erfolgreiche Anpassung an die Unternehmenskultur zu höherer Mitarbeiterzufriedenheit und einem positiven Arbeitsklima führt.
Diese Ergebnisse stehen jedoch im Kontrast zu Ansätzen, die betonen, dass zu starke Anpassung an die Unternehmenskultur zu einem Verlust der individuellen Identität führen kann. Edgar Schein (1990), ein Pionier der Organisationspsychologie, warnte vor dem Dilemma, dass eine zu intensive Anpassung an Organisationsnormen die individuelle Kreativität und Innovationsfähigkeit einschränken kann.
Der Drahtseilakt
Kontextuelle Authentizität:
Das Konzept der "kontextuellen Authentizität" bietet eine Perspektive, wie Individuen zwischen persönlicher Authentizität und den professionellen Anforderungen am Arbeitsplatz navigieren können. Die Studie von Grant und Ashford (2008) betont die Bedeutung, authentisches Verhalten an die jeweilige Situation anzupassen. Ergebnisse zeigen, dass die Fähigkeit, sich je nach Kontext authentisch auszudrücken, mit höherer beruflicher Anpassungsfähigkeit und Resilienz korreliert.
Um ein Beispiel zu nennen, um dies zu verdeutlichen:
Nael, eine engagierte Mitarbeiterin in einem globalen Konzern, fand sich in einer Situation wieder, in der ihre persönlichen Werte im Widerspruch zu den Unternehmensentscheidungen standen. Das Unternehmen plante, einen Lieferanten mit fragwürdigen Umweltauswirkungen zu beauftragen.
Hier setzte Nael auf kontextuelle Authentizität. Statt einfach den Unternehmensentscheidungen zu folgen, entschied sie sich, ihre Werte klar zu kommunizieren. In einem Team-Meeting betonte sie die Bedeutung von Umweltschutz und ethischer Beschaffung.
Nael schlug vor, alternative Lieferanten zu prüfen, die besser mit den Umweltstandards im Einklang standen. Dabei vermied sie einen konfrontativen Ton und betonte stattdessen die langfristigen Vorteile einer nachhaltigen Lieferkette für das Unternehmen.
Ihre kontextuelle Authentizität trug dazu bei, dass das Team alternative Optionen in Betracht zog. Letztendlich entschied das Unternehmen, einen Lieferanten mit umweltfreundlicheren Praktiken zu wählen, was nicht nur Naels persönlichen Werten entsprach, sondern auch positive Auswirkungen auf das Unternehmensimage hatte.
Naels Beispiel zeigt, dass kontextuelle Authentizität nicht nur persönliche Werte respektieren kann, sondern auch zu positiven Veränderungen innerhalb eines Unternehmens beitragen kann, wenn sie strategisch und einfühlsam angewandt wird.
Die Angst vor Bewertung:
Die Angst vor Bewertung und möglichen negativen Konsequenzen beim Ausdrücken der eigenen Authentizität am Arbeitsplatz ist ein häufiges Thema. Studien, wie die von Leary, Tambor, Terdal, und Downs (1995), zeigen, dass die Angst vor sozialer Ablehnung und negativem Feedback einen signifikanten Einfluss auf das individuelle Verhalten hat. Dies betont die Bedeutung von organisatorischer Unterstützung und einer Kultur, die Offenheit und Authentizität fördert, um diese Ängste zu mildern.
Kernkenntnisse der Studie:
Sociometer Hypothesis: Die Studie stellte die Sociometer-Hypothese vor, die besagt, dass das Selbstwertgefühl eine Funktion der Qualität der zwischenmenschlichen Beziehungen ist. Wenn Menschen das Gefühl haben, sozial akzeptiert und integriert zu sein, steigt ihr Selbstwertgefühl. Im Gegensatz dazu führen soziale Zurückweisung oder Isolation zu einem Rückgang des Selbstwertgefühls.
Interpersonaler Monitor: Die Autoren argumentierten, dass das Selbstwertgefühl als eine Art "interpersonaler Monitor" fungiert. Es dient als Barometer oder Spiegelbild der sozialen Akzeptanz und Integration. Wenn das Selbstwertgefühl hoch ist, signalisiert dies, dass eine Person in sozialen Interaktionen erfolgreich ist, und umgekehrt.
Vermeidung von sozialer Ablehnung: Die Studie betonte, dass Menschen oft bestrebt sind, soziale Ablehnung zu vermeiden. Dies könnte dazu führen, dass Individuen ihr Verhalten anpassen, um sozial akzeptiert zu werden, und dass sie auf soziale Signale empfindlich reagieren, die ihr Selbstwertgefühl beeinflussen.
Das heutige gesellschaftliche Bild spiegelt die Ambivalenz wider: Einerseits wird Authentizität als Quelle von Innovation und individuellem Glück gefeiert. Andererseits bleiben professionelle Standards, gelebte Unternehmenswerte und Verhaltensweisen unverzichtbare Eckpfeiler für effektive Zusammenarbeit und der beruflichen Weiterentwicklung. Die Spannung zwischen diesen Polen definiert die moderne Arbeitskultur und fordert von jedem Einzelnen ein feines Gespür für das Balanceakt auf dem schmalen Grat zwischen dem authentischen Selbst und den professionellen Erwartungen. Es ist ein Perspektivenspiel, das nicht nur die Arbeitswelt, sondern auch die individuelle Identität prägt und formt.
Im systemischen Coaching wird die Bedeutung der Kontextualisierung von Authentizität betont. Wenn du dich mit dieser Frage ganz persönlich auseinandersetzen möchtest, biete ich in meinem Coaching einen offenen Raum dafür.
Food for thought:
Brené Brown: Verletzlichkeit macht stark: Wie wir unsere Schutzmechanismen aufgeben und innerlich reich werden
Kwame Anthony Appiah: Identitäten. Die Fiktionen der Zugehörigkeit
Erich Fromm: Haben oder Sein